i rgendwann Anfang 2011 klingelte bei mir das Telefon. Rolf Gildenast war dran. Ganz unvermittelt begann er, mir mit bedächtiger Stimme am Telefon eine Geschichte zu erzählen:
Es war einmal ein König, der ließ einen Künstler zu sich rufen und beauftragte ihn damit, einen Hahn zu malen. Ein großes, fein ausgeführtes Gemälde sollte es werden. Einen Monat Zeit gab er dem Künstler dafür.
Als der Monat um war, ließ der König nach dem Künstler schicken, dieser jedoch bat um Entschuldigung, er brauche mehr Zeit, der Hahn sei noch nicht fertig. Der König gewährte die Bitte.
Als auch die zugegebene Zeit um war, ließ der König anfragen, wie weit es denn mit dem Hahn sei. Der Künstler bat wieder um Vergebung, er brauche noch mehr Zeit, der Hahn sei noch nicht fertig. Der König verlängerte auch diesmal die Frist.
Als er jedoch beim dritten Male wieder die Antwort bekam, der Hahn sei noch nicht fertig und der Künstler brauche noch mehr Zeit, wurde der König wütend und machte sich höchstselbst auf den Weg zum Atelier des Künstlers.
Dort angekommen erblickte er auf der Staffelei mit Entzücken ein wundervolles Gemälde eines Hahns. Er wollte den Künstler schon zur Rede stellen, warum er denn solange dafür gebraucht habe, da bemerkte er, dass um ihn herum das ganze Atelier mit Bildern von Hähnen gefüllt war, einer neben dem anderen, hundert Stück, jeder in einer anderen Haltung dargestellt und in einer anderen Malweise ausgeführt. Der Künstler erklärte, er sei noch immer an der Arbeit, trotz vieler Versuche sei es ihm noch nicht gelungen, das Wesen eines Hahnes vollkommen im Bild wiederzugeben...
Die ganze Zeit über lauschte ich verwundert und fasziniert wie Rolf mir da am Telefon diese Geschichte erzählte. Und warum erzählte er sie? Er wollte sich dafür entschuldigen, dass er noch nicht wie abgemacht die Inhalte für seine neue Webseite, die ich damals gerade für ihn erstellte, überarbeitet und mir zugeschickte hatte. Er brauche noch mehr Zeit...
So etwas konnte einem nur mit Rolf Gildenast passieren.
Rolf Gildenast war ein Künstler. Er lebte für seine Leidenschaft: die Bewegung, den Tanz. Und für das Theater. Er war so bedingungslos Künstler, dass sich mit ihm und um ihn selbst der schnödeste Alltag in Kunst verwandelte. Er strahlte sie aus. Die Kunst endete für ihn nicht am Bühnenrand, sondern sie war seine Lebensweise.
Die Galerie Tellerrand möchte an Rolf Gildenast erinnern, und das nicht nur anlässlich seines dritten Todestages am 14. Juli. Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, mit einer kleinen, rein persönlich getroffenen Auswahl von Szenen ganz zurückgenommen und einfach - erinnern.
Jesse Krauß für die Galeristen der Galerie Tellerrand, Juli 2015
von Jörg Loskill
Er war das, was man mit einem „außergewöhnlichen Menschen“ in Verbindung bringt. Er war Tänzer und Pädagoge, Bühnentechniker und Choreograph, ein Intellektueller und ein Spieler, ein Klassiker und ein Rebell, ein Artist und ein (Wort-)Akrobat, ein Erzähler und ein Lyriker, ein Musiker und ein Theatraliker, ein Rezitator und ein Visionär, ein Mann des Praktischen und ein Idealist des Philosophischen.
Rolf Gildenast starb mit 47 Jahren durch einen Unfall in Irland. Er hinterlässt in Gelsenkirchen eine Familie – und in vielen Städten und Institutionen Deutschlands Freunde, Fans, Mitstreiter und –denker sowie Förderer.
Was wird aus dem künstlerischen Erbe dieses ungemein kreativen unruhigen, fordernden Geistes?
Hier ein Versuch, ihn als Theater-, Tanz- und Kulturmensch zu würdigen und damit seine intensive Individualität zu unterstreichen. Zur Biographie nur ein paar Hinweise und Daten:
Rolf Gildenast, in Neuss geboren, wollte Feuerwehrmann, Polizist, Pilot und Fußballtorwart werden – als Kind. Irgendwie stimmt das alles im übertragenen Sinn auf sein späteres künstlerisches Profil. Der Gastwirtsohn studierte Philosophie, Verfahrenstechnik, Alte Sprachen und Theologie – und wandte sich, verhältnismäßig spät, dem Tanz zu. Nach der Ausbildung in Hannover bekam er ein erstes Engagement in Gießen (1987 – 93), arbeitete in dieser Zeit jedoch auch schon bei freien Gruppen, wechselte an das Musiktheater im Revier. Dem Ballett Schindowski gehörte er von 1993 bis 2001 an, gab aber noch längere Zeit dort Gastspiele.
Ballettchef Bernd Schindowski, der ihm die schwierigen, hintergründigen, sensiblen Rollen anvertraute, sagte einmal über seinen Solisten: „Als letzte Arbeit kreierte ich für ihn die Partie des Gilgamesch in dem gleichnamigen Epos: Wenn ich zurückdenke, wie er die Rolle verkörperte, glaube ich, die Bühnenfigur und der Tänzer haben etwas Gemeinsames. Ich meine nicht die große Liebe zu einem Freund, sondern die Kraft, dem einmal eingeschlagenen Weg zu folgen, ohne aufzugeben das Ziel zu suchen.“
„Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen. Ich kann nicht anders.“
Getreu dieser Lebensdevise begann Gildenast nach seinem Theaterabschied eine neue Phase seiner künstlerischen Arbeit. Er gründete das„theatergildenast“ mit den Sparten „Spielwerk“ (sechs Stücke), „Kraftwerk“ (neun Produktionen), „Netzwerk“ und „Sakralwerk“ – teilweise agierte er in diesen Performances (für Kinder oder auch, abendfüllend, für Erwachsene) mit namhaften Duo-Partnern wie Hans Kanty (Schlagzeug), Heinz Stein (Lyrik), Jürgen Schimanek (Autor), Jessica Burri (Alte Musik, Gesang) u.a.
Seine Themen dieser „großen“ Multimedia-Klein-Kunst-Stücke: Von Goethes „Faust“ bis zum „Karneval der Tiere“, von der Bibelszene von Frauen bis zur Christus-Passion, von der legendären Carmen bis zum Wagnerschen Bösewicht Hagen, vom Weihnachtsmann bis zum Exoten, von mystischen Allegorien bis zu Hildegard von Bingen und anderen historischen Zitaten. Dabei sprach der Performer nicht nur deutsch, sondern auch lateinisch und (alt)griechisch, französisch und spanisch, englisch und italienisch.
Er war zugleich ein lebendes Wörterbuch und ein Cicerone quer durch die Kulturen der Länder. Durch seine Vielseitigkeit, seine Art, Geschichte in Geschichten zu erzählen, faszinierte er kleine und große Leute, Gebildete und Ungebildete, Anfänger und Profis. Unzählige Kindergärten, Schulen und Gruppen hat er besucht und das Publikum dort mit der Welt des Anderen und der Anderen vertraut gemacht.
Er lehrte durch sein mitreißendes Spiel Toleranz und die Suche nach der eigenen Identität, zu der „man“ stehen soll. Elf Jahre bestand das „theatergildenast“ als Muster für eine Wertediskusssion, die völlig uneitel und überraschend, unvoreingenommen und abenteuerlich daher kam. Rolf Gildenast kannte keine Tabus – außer denen, in denen er hätte diffamieren oder denunzieren müssen.
Er war ein grandioser Danseur noble und ein Bühnenheroe, ein hemmungsloser Utopist (für den Frieden durch die Annäherung und das Wissen von Kulturen) und ein Komödiant, ein theatralischer Spitzbube und ein behutsamer Deuter des Ungewissen und der „unbekannten“ Seite in uns – also ein Seelenversteher.
Die beiden großen Archetypen der klassisch-akademischen Bildung verkörperte er en detail auf den „Brettern“ – Faust und Mephisto als Repräsentanten eines humanistischen Himmels und einer irdisch fixierten Hölle. Ein Charakter hat eben viele Facetten: Gildenast riss in diesem Sinne die Türen auf, um möglichst viele Menschen zu verstehen. Er hat sie in ihren Unterschieden durch seine Beiträge als „homo ludens“, als Spielmoderator und –inszenator, miteinander versöhnt.
Mit seinen pädagogischen Konzepten (ent-)führte er Kinder in die Geheimnisse der Architektur (ein), wirkte wie ein Rattenfänger von Gelsenkirchen, um kleinen Leuten die kulturellen Flötentöne beizubringen. Immer in seinem Gepäck: 2000 und mehr Jahre Kunst und Literatur, Musik und Theater, Fantasie und Poesie. Er tat dies alles mit großem Respekt vor der Leistung unserer Ahnen, unserer Vordenker, unserer Vorbilder – dabei ironisch, selten mal zynisch konstatierend, dass uns heute genau diese Idealvorstellungen des menschlichen Glücks zwischen Alltag und Ignoranz abhanden gekommen sind.
Rolf Gildenast, der mit –zig Schulen, Kulturämtern, Bühnen, Kultursekretariaten, Kirchengemeinden und Kindergärten in Kontakt stand und dabei seine organisatorischen und dispositionellen oder auch logistischen Talente als Einzelgänger einbrachte, demonstrierte in all seinen Stücken, Gedichtbänden (allein sieben!) oder Raumprojekten, wie es nur einen Gewinner für unser Überleben geben kann – durch die unbändigen Mittel der Fantasie.
Dem Himmel so nah, der Erde zuweilen schon ein wenig fern… Ob „Gilgamesch“ oder „Feuervogel“, ob „Meddle“ oder „West Side Story“, ob „Box of Pearls“ oder „La Sylphide“, ob „La Belle et la Bete“, ob „Stabat mater“ oder „Deutsches Requiem“: In den Schindowski-Choreographien und in seinen eigenen Kreationen spielte und „war“ Rolf Gildenast Magier und Verlierer, Held und Suchender, Triumphator und Stürzender, Fragender und Zweifler.
Aber in einem Punkt war er als Ensemblemitglied und als Einzelkämpfer immer Sieger: Rolf Gildenast stand für den Reichtum menschlicher Existenz und für das kühne Wissen um Endlichkeit. „Tänzer müssen tanzen, endlos sich drehen, aus sich raus, durch sie durch – für die Muse wirken.“
Rolf Gildenast hinterlässt eine Riesenlücke in der Revierkultur. Er wird uns als Kulturvermittler fehlen. Hoffentlich gibt es eines Tages ähnlich gestrickte kongeniale Tanzmusikerliteratenjongleure, die in seine (großen!) Fußstapfen treten können. Er hat den Weg, wie man Menschen, Kulturen, Völker, Religionen, Konflikte mit und durch Kunst „fängt“ und manchmal sogar löst, in oft gegen den Strich gebürsteten Variationen aufgezeigt.
Ein unendlicher Prozess, der ewig dauern wird.
Rolf Gildenast, kein naiver Weltverbesserer und auch kein träumerischer Sehnsuchtsolympier, hat an dieser „Ewigkeit“ mit einem Stück gelebter Humanitas ambitioniert mitgewirkt. Man sollte eine bildungsnahe, medial ausgerichtete Kulturstiftung, die sich besonders an junge Menschen wendet, zur Erinnerung nach ihm benennen.