I

n der zweiten Hälfte der 80-er Jahre zogen wir durch die Straßen Berlins. Es war eine analoge Zeit, fotografisch – analog aber auch der Westen hier und der Osten dort, hinter der greifbar nahen Mauer, die nur ein, zwei, drei Jahre später eingerissen werden sollte. Und West-Berlin immer irgendwie dazwischen, eine selige Insel der Sonderregeln, gleichzeitig Nabel der Welt und auch ihr Blinddarm. Yvonne Schleicher fotografierte. Wenn ich mich nicht täusche, so gut wie immer draußen, unterm Himmel über Berlin, oft gar auf den Dächern - über den Straßen und unter den Wolken. Und immer und immer wieder blieb sie stehen, hatte wieder 'was gesehen, probierte, drehte am Objektiv ... denn da war es wieder: eines ihrer Subjektive. Sie machte sich ihr Bild von der Welt. Sie nahm die Welt mit in ihr Verstehen, vor einem Vierteljahrhundert so wie heute.

Von einer der damaligen Fotografien weiß ich, dass in diesen Jahren die Zigarettenmarke HB sehr jung und weiblich tat. Interessant wird das Werbeplakat auf dem Bild aber erst durch einen skurrilen Schatten auf den Lippen der Plakat-Dame, und dann erst, wie eine überraschung, stelle ich fest, oh: Da bin ich ja auch selbst zu sehen auf diesem Foto, und mein Körper ist es, der, sich seitlich vor dem Plakat verrenkend, den Schatten wirft. Da steigt plötzlich Erinnerung und Wahrheit und Berührung in mir auf.


Heute knippst sie digital. Ihre Fotos haben erstaunlich an technischer Ausgefeiltheit gewonnen. Doch ihr Blick scheint mir noch immer ein verwandter zu sein: Das Zufällige am Wegesrand, das Augenblickliche in seiner Vergänglichkeit, das vom Planungsschicksal der Welt süffisant Zusammengestellte – das ist für Yvonne Schleicher von Interesse, geradezu von lebensphilosophischer Überzeugung.

Welt interpretieren

mit einer Haltung: Ich weiß

dass die Welt

ist was sie ist

ob ich sie interpretiere – oder nicht.

Hierin liegt ein anständiges Maß von Demut. Bewusste Bescheidenheit – und mit ihr leben, sehen, blicken ... festzuhalten versuchen ... eine Art ... Kunst?

"Es ist was es ist", das ist der Titel eines 1983 erschienenen Lyrikbandes von Erich Fried. Es ist was es ist, so habe ich Yvonnes Tun erlebt. Gucks dir ruhig an: Es ist nüscht dahinter! - Und doch. Für mich spricht hier eine bescheidene Koketterie. Denn ihre Bilder erzählen, tatsächlich, nämlich davon, was gerade passiert. Sie fragen, außerdem, nämlich danach, was als nächstes passiert. Und danach, was kurz zuvor geschah.

Nun, da die Technik sich so sehr weiterentwickelt hat, die Gestaltung durch Licht und Farben, hat sich noch längst nicht der Ur-Wert des Fotografierens verloren: Er liegt im Gewahren des Moments, im Gefühl für den Ausschnitt, in der Verführung des Auges. Denn der Betrachter von Yvonne Schleichers Bildern wird von einem Wo über ein Anders zu einem Auch "geführt" – und hierin, in dieser Verführung, so finde ich, liegt Kunst.

Und während man dort wandert, durch eines ihrer Fotos, ist sie selbst schon wieder unterwegs, mit dem nächsten Motiv in Beziehungsarbeit, flink, schweifend, innig ... oft belustigt, nie spöttisch ... und letztlich sehr gerne selbst überrascht.

Gerne greife ich die Worte meines Vorgängers Jesse auf, der mit seinen Worten die erste Ausstellung in dieser Galerie Tellerrand begrüßt hat: Wir laden Sie auch mit dieser zweiten Präsentation ein, über den Tellerrand zu schauen – künstlerisch, regional, lebens-artig – auf dass das Hineinklicken in unsere Galerie zur Gewohnheit, aber nie gewöhnlich werde.


Und nochmal der Himmel über Berlin. Yvonne, haben wir Wim Wenders Film, mit dem wunderbaren Bruno Ganz und dem nicht weniger brillanten, im letzten Jahr verstorbenen und hier im Ruhrgebiet insbesonders innig verehrten Otto Sander, nicht zusammen geguckt? Und hierin Peter Handkes Lied "Vom Kindsein" gehört. Für mich hat es mit deiner Fotografie zu tun ... So fängt es an:


Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.


Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.

...


Andrι Wülfing

(für die Galeristen der Galerie Tellerrand)

Gelsenkirchen, 1. April 2014

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